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Zur Person:

Dr. Jörg Wittenberg, ist selbstständiger Business Coach aus Köln und unterstützt Menschen auf ihrem Karriereweg. Seine Fokusthemen sind Leadership, Change- und Projektmanagement sowie Compliance. Er verfügt über 20 Jahre Managementerfahrung als Team-, Abteilungs- und Bereichsleiter sowie als Managing Director & Geschäftsführer in Start-up-Unternehmen und internationalen Konzernen. Außerdem bekleidete er verschiedene Mandate in Aufsichtsgremien und war vier Jahre Dozent an der Frankfurt School of Finance & Management. Dr. Jörg Wittenberg hat Betriebswirtschaftslehre studiert und ist Professional Certified Coach (ICF), zertifizierter StärkenCoach (GALLUP), Business Trainer (BDVT), Project Management Professional (PMI) sowie Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu Führungs- und Bankthemen.

www.der-wegbereiter.de​​​​​​​

In seinem aktuellen Buch Erfolgreich führen in hybriden Arbeitswelten – Analog & digital – Roadmap für Führungskräfte erklärt Dr. Jörg Wittenberg zusammen mit der Co-Autorin Sabrina Gall, wie sich unsere Arbeitswelt durch die Zunahme des Arbeitens im Home-Office seit der Corona-Pandemie verändert hat und welchen Herausforderungen gerade Führungskräfte in Unternehmen sich dabei stellen müssen. Die analoge und digitale Zusammenarbeit in der sogenannten hybriden Arbeitswelt gehört zum „New Normal“ unserer Zeit. Damit Führung unter den neuen Rahmenbedingungen gelingt, sind vier Kompetenzfelder besonders relevant: Communication, Awareness, Relationship und Empowerment. Mit ihrem NEW C.A.R.E.-Modell für hybride Führung stellen die Autoren einen innovativen Ansatz vor und verdeutlichen dessen Anwendung mit zahlreichen praxisbezogenen Workhacks. Wir sprachen mit Dr. Jörg Wittenberg über sein neues Buch sowie über die aktuellen Veränderungen in unserer Arbeitswelt in dieser sehr turbulenten Zeit.

Top: Seit der Corona-Pandemie hat sich unsere Arbeitswelt grundlegend verändert. Wie beurteilen Sie die Herausforderungen, die sich für Unternehmen aktuell stellen?

Dr. Jörg Wittenberg: Durch die Corona-Pandemie wurden die Beschäftigen quasi über Nacht in eine neue Arbeitswelt katapultiert. War das Arbeiten im Home-Office vorher die Ausnahme im Berufsalltag, so wurde es im Lock-down für Viele die Regel. Nachdem die behördliche Home-Office-Pflicht im Juli 2021 aufgehoben wurde, haben die Unternehmen schrittweise begonnen, ihre Büros für ihre Angestellten wieder zu öffnen. Die aktuellen Statistiken zeigen jedoch, dass die Home-Office-Quote in vielen Unternehmen immer noch zwischen 70 % und 90 % liegt und damit in der Spitze mehr als viermal so hoch ist, wie vor der Pandemie. Man kann den Eindruck gewinnen, dass viele Beschäftige nicht ins Büro zurückkehren möchten. Das „New Normal“ in unserer Arbeitswelt hat sich offensichtlich neu definiert und Fakt ist, dass wir jetzt in einer hybriden Arbeitswelt leben.

Top: Was bedeutet der Begriff „hybrid“ eigentlich genau und welche Herausforderungen sind damit für Führungskräfte verbunden?

Dr. Jörg Wittenberg: Die hybride Arbeitswelt definiert sich durch die Kombination verschiedener Arbeitsorte, an denen die Beschäftigten tätig sind. Die Mitarbeiter*innen können on-site, in den Geschäftsräumen ihres Arbeitgebers, oder off-site, außerhalb der Geschäftsräume, arbeiten. Das Off-site-Arbeiten wird auch Remote-Arbeiten genannt. Das Arbeiten im Home-Office ist ein Beispiel dafür.

Die On-site-Arbeitswelt wird auch mit dem Begriff der analogen Arbeitswelt und die Off-site-Arbeitswelt mit dem Begriff der digitalen Arbeitswelt gleichgesetzt. Hinter diesem Wortgebrauch steht die Vorstellung, dass die Mitarbeiter*innen sich in einer analogen Arbeitswelt (auch) persönlich, d. h. analog face-to-face, austauschen können, während dies in einer digitalen Arbeitswelt ausschließlich über elektronische Medien geschieht, weil an unterschiedlichen Orten gearbeitet wird und kein persönlicher Austausch mehr stattfindet.

Die mit der räumlichen Verteilung der Beschäftigten verbundenen Herausforderungen möchte ich an einem Beispiel aus der Bergwelt erläutern. Stellen Sie sich vor, Sie sind mit Anderen auf einer Wanderung in den Bergen und wollen einen Berggipfel erklimmen. Starten Sie gemeinsam mit dem Bergführer in einer Gruppe, dann reicht es, dem Bergführer zu folgen, und sie kommen alle ans Ziel. Starten Sie als Wanderer in einer zweiten Gruppe ohne eigenen Bergführer in einem anderen Tal und wollen die Bergführergruppe auf dem Weg zum Gipfel treffen, wird das schon schwieriger. Sie können im Zweifel nur über Funk mit dem Bergführer in Kontakt bleiben. Einfach hinterherlaufen, ist keine Option.

Damit sich beide Gruppen unterwegs treffen und gemeinsam das Ziel erreichen, gibt es eine Vielzahl an Fragen zu klären und Aufgaben zu koordinieren: Was ist das Ziel, in welche Richtung muss ich laufen, wer braucht von wo wie lange, um anzukommen, wer bringt welche Sachen mit, was tun, wenn ich mich verlaufe, wann wollen wir ankommen?

In einer hybriden Arbeitswelt ist dies nicht viel anders. Je weiter die Führungskraft, in der Funktion des Bergführers, von den Mitarbeiter*innen entfernt ist und je mehr getrennte Teams es gibt und je größer und heterogener diese sind, desto größer sind die Herausforderungen für die Führungskraft, damit am Ende Alle das gemeinsame Ziel erreichen.

Top: In Ihrem Buch halten Sie vier Kompetenzfelder für eine erfolgreiche Führung in hybriden Arbeitswelten für besonders relevant. Communication, Awareness, Relationship und Empowerment. Was verbirgt sich konkret hinter diesen Begriffen?

Dr. Jörg Wittenberg: Diese vier Kompetenzfelder erhalten ihre Bedeutung aus den Herausforderungen der hybriden Arbeitswelten. Kommunikation (Communication) als Schlüssel für ein gemeinsames Verständnis über Ziele und Wege ist demnach essenziell. Dies gilt auch für das Bewusstsein (Awareness) über Ihre Rolle als Führungskraft, um sich auch selbst durch den stetigen Veränderungsprozess zu führen. Schließlich ist Selbstführung der Anspruch an sich als Führungskraft und am Ende auch an die Mitarbeiter*innen.  Die Kompetenz, Beziehungen aufzubauen und zu pflegen (Relationship), ist in einer digitalisierten Netzwerkökonomie entscheidend, um Mitarbeiter*innen in das eigene Team bzw. das Unternehmen bestmöglich zu integrieren. Und schließlich muss die Führungskraft die Kompetenz besitzen, die Mitarbeiter*innen zu ermächtigen (Empowerment), in der hybriden Arbeit eigenverantwortlich produktiv wirken zu können. In diesem Sinne verstehen wir unser NEW C.A.R.E. Modell als die Verantwortung, sich um die Mitarbeiter*innen unter Einsatz dieser Kompetenzfelder zu kümmern.

Top: Wie erklären Sie sich die plötzliche Beliebtheit des Arbeitens im Home-Office aus Sicht der Beschäftigten? Und wie sehen dies die Unternehmen?

Dr. Jörg Wittenberg: Vor der Corona-Pandemie gab es auf beiden Seiten eine starke Zurückhaltung gegenüber dieser Arbeitsform. Ein wesentlicher Grund auf der Arbeitgeberseite war das Misstrauen gegenüber den Mitarbeiter*innen, ob diese im Home-Office wirklich arbeiten und die räumliche Distanz nicht nutzen, um sich der Kontrolle durch ihre Vorgesetzten zu entziehen. Die Beschäftigten führten hingegen die mangelnden technischen Anbindungsmöglichkeiten und die fehlenden betrieblichen Angebote sowie befürchtete Karrierenachteile gegen das Home-Office an.

Mangels Alternativen haben viele Unternehmen und Beschäftigte während der Corona-Pandemie dann die Vorteile zwangsweise zu schätzen gelernt und wollen sie jetzt nicht wieder aufgeben. Wer pro Tag jeweils 1 Stunde für Hin- und Rückfahrt zum Arbeitsplatz pendelt, gewinnt durch das Home-Office pro Woche 10 Stunden Lebenszeit, die er oder sie nicht mehr im Auto oder in der Bahn verbringt. Kein Wunder, dass für die Beschäftigten der Faktor Zeit zu den Hauptargumenten pro Home-Office zählt. Und viele Unternehmen haben erfahren dürfen, dass ihre Beschäftigten auch ohne Kontrolle produktiv geblieben sind. Gleichzeitig wurde auch schon ausgerechnet, was man sparen könnte, wenn man in Zukunft weniger Büroflächen vorhalten müsste.

Top: Wer die öffentliche Diskussion verfolgt, weiß, dass nicht alle Unternehmen und Beschäftigten gleichermaßen von dieser hybriden Arbeitswelt begeistert sind. Welche grundsätzlichen neuen Probleme stellen sich denn für Unternehmen, Führungskräfte und Arbeitnehmer?

Dr. Jörg Wittenberg: Die Situation ist sehr vielschichtig und ich möchte mich an dieser Stelle auf drei Aspekte konzentrieren. Für die Beschäftigten kann sicherlich das Phänomen der Entgrenzung von Berufs- und Privatleben genannt werden. Dadurch, dass man nicht mehr „auf Arbeit“ ist, sondern die Arbeit zuhause stattfindet, besteht die Gefahr, dass im Home-Office mehr als früher gearbeitet wird. Man ist immer online erreichbar, hat mehr Zeit für die Arbeit zur Verfügung und kann private und berufliche Dinge auch parallel erledigen. Hier droht eine persönliche Überlastungssituation. Die Führungskräfte wiederum müssen Führung neu definieren. Alte Führungsinstrumente greifen nicht mehr, neue Spannungsfelder zwischen den Beschäftigen entstehen und der Führungsaufwand steigt in Summe. Die Unternehmen schließlich müssen neue Strukturen aufbauen. Und der Wandel von einer Kontroll- zu einer Vertrauenskultur sowie die steigenden Ansprüche an die Eigenverantwortung aller Akteure stellen sich als ein langwieriger Veränderungsprozess dar, der Geld und Ausdauer erfordert.

Top: Abschließend noch eine Frage. Wie arbeiten wir aus Ihrer Sicht im Jahr 2050?

Dr. Jörg Wittenberg: Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass die Zukunft nicht vorhersehbar ist. Niemand hätte sich vor zwei Jahren vorstellen können, welche gesellschaftlichen, politischen und auch betrieblichen Realitäten durch einen Virus geschaffen werden, den man nur durch ein Elektronenrastermikroskop erkennen kann. Disruptive Veränderungen kennzeichnen unsere Welt und sind nicht planbar. Satya Nadella, CEO von Microsoft, brachte die Dynamik der Veränderungen während des ersten Lock-down mit den folgenden Worten auf den Punkt: "Wir haben in 2 Monaten eine digitale Transformation von 2 Jahren erlebt".

Auf mittlere Sicht wird sich das Verhältnis der on-site und off-site Arbeitenden neu einpendeln. Die Diskussion darüber hat gerade erst richtig an Fahrt aufgenommen. Die Unternehmen werden verschiedene Wege gehen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass ganze Unternehmenssektoren davon nicht betroffen sind. Denken Sie an Produktionsstätten im Automobilbereich oder an Dienstleister, wie Hotelbetriebe oder Restaurants. Am Ende rechne ich mit einer mindestens doppelt so hohen Home-Office-Quote in der hybriden Arbeitswelt, also rund 40 %, wie vor der Pandemie. Also zwei Tage Home-Office und drei Tage im Büro könnte für dieses Jahrzehnt der neue Standard werden.